Legendärer Fund.......Michael Gnade entdeckt lyrische Tagebücher und Pastellbilder
der klassischen Moderne.......von Lotte Hörmann-Siller (1895 - 1971)
                                 

 

 

 




        
Dreissig Jahre nach dem Tod der Mystikerin Lotte Hörmann-Siller wird ihr lyrisches und bildnerisches Werk, das der Öffentlichkeit bisher vorenthalten blieb, durch ihren Pflegesohn Michael Gnade vorgestellt.







        
Die Bücher-Truhe

 

Lotte Hörmann-Siller 1970, gestorben 17. September 1971.

   

 

 

        Im Frühjahr 1952 wurde ich als zehnjähriger Knabe für drei Jahre in Pflege gegeben zu der Bensberger Künstlerfamilie des
Dipl. Ing. Architekten Alfred Hörmann, der am Bauhaus in Dessau studiert hatte, und seiner Frau, der Dichterin und Landschaftsmalerin Lotte Hörmann, geborene Siller.


        Bei meiner Vorstellung in ihrem idyllischen Fachwerkhaus an dem Sträßchen 'Im Alten Feld' wurden meine Mutter und ich schon an der Pforte freundlich empfangen. Die beiden hochgewachsenen älteren Herrschaften, sehr schlank und miteinander verwandt erscheinend auch an den asketisch gezeichneten Gesichtern und Händen, führten uns über den Hof, durch die kleine Diele mit

  Das ca. 1865 erbaute Fachwerkhaus in Bensberg, 'Im Alten Feld', bewohnte Lotte Hörmann-Siller von 1947 bis 1971. Zuvor, von 1936 an, lebte sie mit ihrer Familie in der nahegelegenen 'Kaule 17'. Auf der rechten Abbildung sieht man sie im Sommer 1936 mit ihrem neunjährigen Sohn Heinz-Peter, der 1945 in Polen gefallen ist.     

niedrigen Türen in das gemütliche Wohnzimmer, wo mir als Sitzplatz eine alte Truhe zugewiesen wurde. Ein kleiner Tisch war gedeckt mit feinem Porzellan, der nebenstehende Teewagen mit Plätzchen und Getränken. Die Erwachsenen setzten sich in hohe Lehnstühle vor wandfüllende Bücherregale, und der Hausvater sagte zu mir: "Wenn du studiert haben wirst, worauf du sitzt, dann bist du ein kluger Mann." Verdutzt erhob ich mich, und Onkel Alfred, wie er sich sogleich nennen ließ, klappte den Deckel der Truhe nach oben. Da sah ich, daß sie voller Bücher war.    

 

 

          Die Nachlaß-Truhe

         Im Herbst 1971, als meine Pflegemutter ihrem bereits 1962 verstorbenen Mann in das Grab gefolgt war, wurde der schriftliche Nachlaß der beiden - zum Teil von Tante Lotte geschnürt zu Bündeln, Päckchen und Mäppchen - im ganzen Haus zusammengesucht und in die schöne, noch aus Lotte Sillers Mädchenzeit stammende Truhe verstaut, nachdem diese von den 'klugen' Büchern geleert war. Hier nun schlummerte die geistige Hinterlassenschaft der Pflegeeltern beinahe dreißig Jahre. Eine turbulente Künstlerlaufbahn, Ehe- und Familienleben erlaubten noch keine gründliche Auseinandersetzung mit dem Nachlaß. - Auch waren in meinen Archivschränken noch viele Zeichnungen und Pastellbilder gestapelt.
 

 

           Die Schatz-Truhe

         
Im Winter 1999 erfaßte mich eine Grippewelle mit mehrwöchiger Schwäche. Aus Furcht, zuviel Unnötiges könnte überleben, machte ich Tabula rasa mit den eigenen Schriften, Zeichnungen, Bildern und Fotos. Der Truheninhalt aber wurde für überlebenswert befunden.

         Ein Jahr später fällt mein Blick wieder auf die Truhe. Onkel Alfreds Orakel fällt mir ein, obwohl die Bücher doch längst im Regal stehen und in der Truhe der Nachlaß liegt. Da klingt durch das geöffnete Fenster zum Nachbarhaus die Stimme eines Mädchens: "Nimm es, lies es, nimm es, lies es." Ob unter Kindern bei irgendeinem Spiel so ein Leierliedchen üblich ist? Ich entsinne mich nicht. War es Lottes Stimme, die empfiehlt, in einem Schriftstück aus der Truhe eine Stelle zu lesen? Ich ergreife das erstbeste Stück, es ist ein Tagebuch, schlage es auf, und finde unter dem Datum des 29. Juli 1918:

 
  Das echte Gold liegt nur in dir,
Es leuchtet auf und blüht in mir!
Doch ach, die Lust wohnt gar nicht weit,
Und sie ist voll Begehrlichkeit.
Sie reckt die Arme, dehnt die Brust,
Die junge, liebe, tolle Lust.

Sie lacht und jauchzt und tanzt und singt,
Sie alles nur mit sich durchdringt.
Und stockt, und hält sich schwer zurück,
Leb wohl du junges Eigen-Glück.
Ob du gestillt wirst? - Glaube nicht! -
Und Liebe du? - Erfüllung, Licht?
   


In dieser Truhe
aus Lotte Hörmann-Sillers
Mädchenzeit war von
1971 bis heute ihr
gesamter schriftlicher
Nachlaß aufbewahrt,
dazu Bücher zur Rolle
der Frau um 1900,
die Lotte Siller persönlich
gesammelt hat,
Fotodokumente und
kleinere Zeichnungen.
 

 

           Weiter lese ich nicht. Ein Licht der Zuversicht strahlt auf, und alle Finsternis des Unschlüssigen vergeht. Es ist wie ein zweiter Wille, der sich dem eigenen überwirft. - In einen der hohen Lehnstühle lasse ich mich nieder, darin meine geistige Mutter bei der ersten Begegnung, vor bald einem halben Jahrhundert, mir gegenüber saß. Wie vermag die Zeit stillzustehn! - Ihr schwarzes Tagebuch in wie Schalen geformten Händen: Gedicht um Gedicht, Stunde um Stunde, Tage und Nächte offenbart sich das Mädchen, die junge Frau, die Mutter - und noch als Greisin voll stürmischer Naturbegeisterung und Kunstpassion, im Zwiespalt beseligender Allverbundenheit und Verzweiflung, ein Spiegelbild ihres Selbst.
           Aus dem Jahr 1920 lese ich unter der Überschrift "Conzert, Beethoven" :

 



Oft, wenn ich den Puls des Lebens nah mir fühle, der Fülle Buntheit tausendfältig um micht bricht,
so vielgestalt’ger Welten Kraft ich regen sehe, und ich zu fühlen glaube, was erst Leben ist:
Dann leb auch ich, und lebe wunderbar erhoben, ich dränge mich an aller Erdenschöne Pracht,
und kann im ew’gen Durst genug nicht finden. - Die höchste Weise nur ist wert gelebt zu sein,



Brandenburg, 1923, Reisskohle, 23 x 30

und sehnend such ich meiner Schwungkraft bestes Wesen, um gesteigerter zu fühlen, mächtig, rein,
was sonst nur mißgestaltet und verborgen, wenn es nicht gottgewollte Klänge
plötzlich stark zum Leben trägt, daß ich Erfüllung in mir spüre
und einen Anklang höchster Seligkeit. Denn darin, glaub ich, liegt der Weisheit letzte Tiefe,
daß ich mein Wesen ganz verschenken kann, um doch am wahrsten bei mir selbst zu sein. –

 

 

         Leidenschaftlich umschlingt die Künstlerin alles, was das Dasein ihr zu bieten hat in Wallungen und Spannungen unendlicher Fülle, voll liebender, schenkender Glückseligkeit, wie auch in diesem Vorfrühlingsgedicht vom Februar 1965:  

 

 
       Und des Frühlings Festgesänge
       Klingen hell mir schon im Ohr,
       Bringt des Winters müde Kälte
       Auch noch Eis und Schnee hervor!
       Der Verheißung Seligkeiten
       Still im off'nen Herzen spricht,
       Und das kalte, starre Denken
       Schmiegt sich zärtlich zum Gedicht.



 


      "Almhütten im Vorfrühling" 1919, Pastell, 35 x 45

 

 

         Erschütternd ihre empor jauchzende Dithyrambe und jene versenkende Mystik, in denen das Leben eines Menschen strömt, der sich stark in Seele, Verstand und Körper weiß - und dann wieder so müde und schwach und unvollkommen.

       Und nun erst die Handschrift, beginnend mit der Eintragung von 1910, dem Gedicht "Von Weihnachten" in behutsamer Schönschrift der Fünfzehnjährigen. Dann der kräftige Duktus bei der Sylvester-Hymne 1918/19, mit dem Vaterlandpathos Schillers und Hölderlins; die leidenschaftlich fliehenden Zeilen erster Liebessonette; und der schwere Mahlstrom des Blutes bei den Oden an den Freund vom Juli 1924, an das "Hohe Lied" Salomos erinnernd:


 
 

Alfred Hörmann während seiner Studienzeit
am Bauhaus Dessau 1924
 
         Lass mich deiner Einsamkeit lauschen, mein Freund,
lass mich dir nahe sein.
Siehe, viel Dunkel umschließt dich und mich, oft bin ich ferne,
- doch manchmal dringt Licht, dein Licht mir zu Herzen.
Beglückung durchströmt mich, ganz hell wird mein Blut.
- - - Bette dein Haupt mir an meine Schulter, wie einst du getan,
du weißt es ja wohl - ich war deine Heimat.
- Bin eine andre, ich, deine Freundin?
Nein, mein Geliebter, ich bin was ich war.
Siehe, viel liegt beschlossen in meinem Herzen, du, du wecke das Liebste dir auf.
Doch laß mich reich sein, wird aus der Fülle nicht schöner geschenkt?

 

           Und nun die Altersgedichte in ungleichen Zeilenabständen, schiefen Worten und verstreuter Interpunktion, scheinbar mühsam hingekrakelt – und doch konzentriert aus zuversichtlichem Glauben an das Seelen-Leben.
         Hier ein Gedicht vom 1. Aug. 69:

 
  Hab ich soviel verloren,
Verliere auch noch dies,
Immer wird wieder geboren,
Aus dem, was ich zitternd ließ.
Traure ich um das Eine,
So steigt es neu empor,
Und das, worum ich weine,
Wird zum geöffneten Tor.
Für den Wandel, das Streben,
Für den Schrecken, das Glück,
Und zuletzt bleibt das Leben
Groß in der Seele zurück.

 

 

         Bis zuletzt geben die lyrischen Tagebücher Aufschluß über die Einheit ihres bildhaft-geistigen Schaffens, erklären das Glück und die Zweifel bei der Gestaltung des Lebens als Mensch und als Künstlerin. – Wie läßt sich dieses Werk den Menschen unserer Zeit öffnen?

Wenn Sie bis hierher gelesen haben, interessiert Sie vielleicht auch die Fortsetzung dieses Berichts:

Die Schatz - Truhe
Teil 2

Öffentlichkeitsarbeit




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